7.
Wieder zurück auf der Ranch, hielt Simon vor dem Trailer und ließ Julia aussteigen. Das Aufstellen der Schilder hatte länger gedauert, als sie vermutet hatte. Es war bereits später Nachmittag.
»Danke f-ür die Hilfe.«
»Es hat mir Spaß gemacht«, sagte Julia und das war die Wahrheit. Sie winkte ihm zu und ging hinein.
Hanna hob den Kopf, als sie die Tür klappen hörte. Sie hatte auf der Couch geschlafen und auf ihrer Wange zeichnete sich das Muster des rauen Stoffes ab. »Na, wie war dein Tag?«
»Schön und anstrengend«, erwiderte Julia und ließ sich in den alten Sessel fallen. »Wir waren in den Bergen auf dem Versammlungsplatz. Ist schön da oben. Allerdings auch schrecklich heiß.«
Hanna setzte sich auf. »Bist du mit Simon klargekommen?«
»Er ist okay«, sagte Julia. »Wir sind übrigens Jason begegnet.«
»Und? Habt ihr geschwisterliche Beziehungen geknüpft?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Jason war ganz nett. Er hat uns geholfen, als wir keinen Draht mehr hatten.«
»Na, das klingt doch gut.«
»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte Julia. »Und wie ist es dir ergangen?«
»Frag lieber nicht.«
»Warum? Was war denn los?«
»Ach, nichts Besonderes. Nur dass deine Großmutter mich für ein verwöhntes Etwas aus der Stadt hält und nichts auslässt, um mir zu zeigen, wie hart das Leben auf der Ranch ist. Selbst jetzt noch, wo dein Vater tot ist, will sie mir beweisen, dass ich nicht die Richtige für ihn war.«
»Warst du denn die Richtige?«
Hanna rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann sah sie ihre Tochter nachdenklich an. »Ich habe deinen Vater geliebt, Julia. Warum willst du mir das wegnehmen?«
»Ich habe nur gefragt, ob du glaubst, dass du die Richtige warst. Du hast ständig an ihm herumgemäkelt oder hast du das schon vergessen?«
»Wir haben uns in letzter Zeit nicht mehr so gut verstanden, das ist wahr. Es wurde immer schwieriger, mit ihm zusammenzuleben und seine Gedanken zu verstehen. Dein Vater wusste, wie die Dinge auf der Ranch liefen. Dass er gebraucht wurde, von seinen Eltern und vor allem auch von seinem Sohn. Das hat ihn gequält.«
»Warum ist er dann nicht zurückgegangen?«, fragte Julia trotzig. Sie wollte das Ganze verstehen und nicht bloß einen Teil davon.
»Deinetwegen, Julia. Er ist deinetwegen nicht zurückgegangen. Weil er einmal in seinem Leben etwas richtig machen wollte.«
»Das hat er«, sagte sie, Tränen in den Augen. Etwas brannte in ihrer Kehle. »Er hat, verdammt noch mal, alles richtig gemacht.«
»Ja, ich weiß.« Hanna klang bitter. »Er hat immer alles richtig gemacht und ich alles falsch. Wahrscheinlich fragst du dich, warum er sterben musste und nicht ich. Meinen Verlust hättest du vermutlich leichter verschmerzen können.«
Eine heiße Woge der Scham rollte durch Julias Körper, als sie ihre Mutter so reden höre. Vor einer Weile hatte sie das tatsächlich gedacht. Jetzt schämte sie sich für ihre Gedanken. »Das ist nicht wahr«, sagte sie.
»Ach nein? Und warum bist du dann so zu mir? Glaub mir, es war nicht immer leicht mit deinem Vater. Ich habe ihm nie zum Vorwurf gemacht, dass ich den Familienunterhalt verdienen musste. Aber du hast mir ständig vorgehalten, dass ich kaum Zeit für dich hatte. Ich musste so viel arbeiten, Julia. Ich habe nämlich auch die Tickets bezahlt, mit denen dein Vater hierherflog, um seine Familie zu besuchen. Ich habe versucht, ihn glücklich zu machen, aber meine Fähigkeiten reichten anscheinend nicht aus. Was er brauchte, konnte ich ihm nicht geben.«
»Dann warst du also nicht die Richtige für ihn?«
Hanna seufzte tief. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war Deutschland das falsche Land für deinen Pa.« Eine Weile schwieg sie und sagte dann: »Es tut mir leid, dass ich oft nicht für dich da war, Julia. Ich habe mir fest vorgenommen, dass es in Zukunft anders wird. Das verspreche ich dir.«
Julia konnte nicht antworten. Sie sprang auf und verließ fluchtartig den Trailer.
Ziellos und innerlich aufgewühlt lief Julia los, den Fahrweg entlang, der an Simons Wohnwagen und am alten Blockhaus vorbeiführte. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte den wilden Schmerz wieder an die Oberfläche geholt und nun war es Julia, als würde eine Faust ihr Herz zusammendrücken.
Als sie an einer Ansammlung von Zäunen und klapprigen Ställen vorbeikam, hörte sie auf einmal ein leises Geräusch, das wie ein Meckern klang. Julia ging ihm nach und entdeckte in einem offenen Stall zwei winzige weiße Ziegenkinder, die auf zitternden Beinen standen.
Simon kniete bei der Mutter und redete beruhigend auf das Tier ein. »Gut hast du das gemacht, Roxy«, sagte er und strich der Ziege liebevoll über den Hals. »Sie sind wunderschön, deine beiden Kleinen.«
Julia musste lächeln und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Wunderschön war vielleicht nicht das richtige Wort. Die beiden hatten ein nasses, strubbeliges Fell, in dem Staub und Samenkörner hingen. Die Ohren des einen Zickleins waren kurz und standen zu beiden Seiten vom Kopf ab. Die Ohren seines Geschwisterchens waren lang wie Hasenohren und hingen schlapp nach unten. Es war ein zu lustiger Anblick und er vertrieb für einen Augenblick Julias trübe Gedanken.
Ein schwarzer Bock, den Julia bisher noch nicht bemerkt hatte, kam aus dem Stall und fixierte Simon mit seinen starren Ziegenaugen. »Hey, Mr Black«, sagte er. »Ich weiß, dass sie deine Frau ist, und ich will auch gar nichts von ihr. Es gibt nicht den geringsten Grund zur Eifersucht, ich schwöre es. Du...«Der Bock versetzte ihm einen Stoß vor die Schulter, Simon kippte nach hinten und saß auf der Erde.
Julia lachte und er drehte sich mit verdutztem Gesicht zu ihr um. Ganz offensichtlich war es ihm peinlich, dass sie Zeugin seines Gesprächs mit Mr Black geworden war. Doch sie ließ Simon keine Chance, verlegen zu werden.
»Sind die gerade erst geboren?«, fragte sie.
»Ja.« Er rappelte sich auf und klopfte den Staub von seiner Hose.
»Kann ich reinkommen?«
»Mr Black m-mag keine Fremden.«
»Na, du scheinst ihm aber auch nicht ganz geheuer zu sein«, sagte Julia.
Simon schien einen Moment zu überlegen, dann nahm er das Zicklein mit den Schlappohren auf den Arm und reichte es ihr über den Zaun. Julia drückte ihre Nase gegen den Hals des Ziegenbabys und sog den feuchtwarmen Tierduft ein. Sie streichelte es, bis es anfing, kläglich nach seiner Mutter zu schreien. Mit einem bedauernden Lächeln gab sie es Simon zurück, der es behutsam wieder auf den Boden setzte. Die Ziegenmama war aufgestanden. Die beiden Kleinen drängten ihre rosa Mäuler ans Euter und begannen mit ruckartigen Bewegungen zu trinken.
»Die sind süß.«
»Ja. Aber die K-K-Kojoten werden sie holen, wenn ich den Zaun nicht repariere, bevor es dunkel wird.«
»Ich helfe dir, okay?«
»Okay.«
Inzwischen musste sie ihn für Dr. Doolittle halten, aber das war nun auch schon egal. Wahrscheinlich dachte sie, dass er nicht sonderlich helle war, und deshalb lieber Gespräche mit Tieren als mit Menschen führte. Manchmal jedenfalls betrachtete Julia ihn mit dem gleichen Blick, mit dem sie Pipsqueak ansah, Pepper oder vor ein paar Minuten die kleinen Ziegen. Simon wusste nicht, was er von diesem Blick halten sollte.
Er hatte Spuren von Tränen auf Julias Gesicht gesehen. Dafür, dass der plötzliche Tod ihres Vaters erst knapp drei Wochen zurücklag, hielt sie sich ausgesprochen tapfer, wie er fand. Manchmal lachte sie sogar, so wie eben über seinen Zusammenstoß mit dem Ziegenbock. Aber wenn ihre Augen aufhörten zu lachen, dann sah er die dunkle Trauer in ihnen.
Inzwischen hatte Simon bemerkt, dass Julias Augen ihre Farbe änderten, wenn das Licht wechselte oder ihre Gefühle umschlugen. Wenn sie enttäuscht oder traurig war, wurde die Iris dunkel wie die Blätter der Pappeln. Und wenn sie lachte, strahlten ihre Augen beinahe so blau wie der Türkis, der sich in seiner Steinsammlung befand.
Simon zeigte Julia, wo Hölzer lagen, die er für den Zaun verwenden konnte. Während sie die Latten herantrug, kümmerte er sich um Werkzeug, Nägel und Draht. Dann flickten sie unter Mr Blacks wachsamen Ziegenaugen das Gatter. Simon drinnen bei den Tieren und Julia draußen, auf der anderen Seite des Zaunes. Die Zicklein meckerten mit zaghaften Stimmchen und Simon redete mit ihnen.
Julia blickte ihn an, so voller Wärme, dass er verstört zu Boden sah. Dieses Mädchen schaffte es, ihn total zu verwirren.
»Wenn du mit den Tieren sprichst, stotterst du überhaupt nicht«, sagte sie. »Ist dir das schon mal aufgefallen?«
Simon schloss für einen Moment die Augen. Sie sagte das einfach so, als würde sie über das Wetter sprechen. »Ja. A-ber das zählt nicht.«
»Du darfst nicht so ernst nehmen, was Jason...was mein Bruder heute von sich gegeben hat.«
Er hob den Kopf und sah sie an. »L-eicht gesagt.«
»Ich weiß.« Julia lächelte mitfühlend.
Er entspannte sich ein wenig. Julia war eine gute Beobachterin, ihr Blick blieb nicht an der Oberfläche hängen. Ihre Offenheit war nicht aufgesetzt und in ihrem Wesen lag eine Nachdenklichkeit, die ihn neugierig machte. Auf einmal interessierte ihn, wie sie die Dinge sah, über die er sich in seinen einsamen Nächten den Kopf zerbrach. Dinge, über die er mit niemanden hier reden konnte.
War man ein komischer Vogel, wenn man die Einsamkeit der Gesellschaft anderer Menschen vorzog? Stimmte es, dass man keine Liebe geben konnte, wenn man als Kind keine Liebe bekommen hatte? War es so, dass man etwas, das man begehrte, nur gegen etwas anderes eintauschen konnte, etwas, das einem ebenso lieb und teuer war? Konnte man auf der anderen Seite des Ozeans die verborgene Hälfte des Mondes sehen?
Da war so vieles, das unausgesprochen in ihm arbeitete. Doch mit wem sollte er reden – außer mit Pepper? Ada wusste eine Menge, aber ihre Ansichten über das Leben und die Menschen waren ziemlich verschroben. Und es war schwierig, mit Boyd zu sprechen, für Simon noch mehr als für andere. Wenn sie gemeinsam arbeiteten, konnte er nichts aufschreiben. Und seine Fragen brüllend hervorzubringen, brachte er auch nicht fertig.
Wie gerne hätte Simon sich mit Julia unterhalten, nur dass eine einfache Unterhaltung eben ein riesiges Problem für ihn war. Er hatte Angst, das Falsche zu sagen und sich vor ihr lächerlich zu machen – mit seiner Stotterei und seinen merkwürdigen Fragen.
Er zog einen Nagel zwischen den Lippen hervor, setzte ihn auf die Zaunlatte und schlug ihn mit dem Hammer in das sonnendurchglühte Holz. Ein zweiter Nagel und die Latte war fest. Während er arbeitete, warf er ab und zu einen verstohlenen Blick auf Julia. Vielleicht sollte er sich nicht so viele Gedanken um ein Mädchen machen, das in wenigen Tagen wieder aus seinem Leben verschwunden sein würde.
»Kennst du meinen Bruder eigentlich näher?« Julias Frage platzte in ihr Schweigen.
Fuck. Allein schon der Gedanke an Jason bereitete Simon Magenschmerzen. Er wusste nicht viel über Adas Enkelsohn, aber das, was er von Frank gehört hatte, genügte ihm. Frank Malotte war Adas Neffe und betrieb in Eldora Valley eine Reparaturwerkstatt. Frank sah und hörte alles. Simon kam gut mit ihm aus, er war beinahe so etwas wie ein Freund für ihn.
»Jason k-kommt nur selten auf die Ranch.«
»Redet meine Großmutter nicht über ihn?«
»Kaum.«
»Und was ist mit Tracy, seiner Schwester. Meiner Schwester?«
»Ich bin ihr nur zwei- oder dreimal begegnet.«
Simon merkte, dass seine Auskünfte Julia nicht zufriedenstellten, aber er fand, dass er für diesen Tag genug Fragen beantwortet hatte. Hastig erhob er sich und sammelte das Werkzeug zusammen. Der Zaun war fertig.
»Danke f-für deine Hilfe«, sagte er. »Wir sehen uns später.« Und verschwand schnellen Schrittes.